Der Dichter Nikolaus Lenau starb 1850 nach sechs Jahren Wahnsinn, das machte ihn für den Schweizer Komponisten Heinz Holliger interessant. Seine Oper ‘Lunea’ über den Derweltabhandengekommenen kam 2018 am Zürcher Opernhaus heraus, Holliger dirigierte selbst, Intendant Andreas Homoki inszenierte. Nun kann man die Produktion nachhören, die vortrefflich gemachte CD erscheint nun beim Münchner Label ECM. Lenau schrieb permanent, auf viele Zettel. Der Dramatiker Händl Klaus formte daraus eine ganz eigene Motivsammlung, Holliger erfand dazu disparate, harsche, raue Klänge, Schlaglichter auf eine Existenz, die mit der Welt nicht klarkommt. Er setzt auf Wirkung, die ist enorm. Eine vielgestaltige Klangwelt, mittendrin die aberwitzig farbenreiche Figur Lenaus, gesungen von Christian Gerhaher.
Egbert Tholl, Süddeutsche Zeitung
‘Lunea’ renvoie aussi à la lune: la composition est crépusculaire, fragmentée, évoquant le besoin de consolation et la solitude d’un homme qui a terminé sa vie interné. La musique est profondément théâtrale, elle exploite une foule de timbres percussifs et instrumentaux, et explore la voix dans toutes les subtilités du Sprechgesang, du murmure au parler, du chant au cri. Chacune des «scènes» plonge dans une atmosphère en clair-obscur. Fascinant et passionnant.
Elisabeth Haas, La Liberté
One reviewer of the opera premiere described the work as a ‘stream of sound which always stays in motion’. The opera is an extended, 100-minute work, based on an earlier, half-hour song cycle which exists in versions with piano and chamber ensemble. There isn’t any kind of linear plot. The poet Nikolaus Lenau finds himself doubled-up as a character with his brother-in-law who also happens to have been his biographer, Anton Xaver Schurz, both characters interpreted (either separately or simultaneously) by the greatest German Lieder singer of our time, Christian Gerhaher. The very great Gerhaher is joined by a top-flight cast including Juliane Banse. Also consistently excellent are the 12 singers of the Basler Madrigalsolisten. Holliger’s choral writing is often based on devilishly complex and shifting tone-clusters, and they deliver them superbly.
The listener is left with the choice with a work like ‘Lunea’. Does one try to wrestle with the themes, such as mental illness and the romantic soul, parallels between romanticism and post-expressionism; does one attempt to unravel some of the puzzles the work presents? Once one finds that post-Bergian numerology and mirror-writing in the libretto have been thrown into the mix, it all starts to look like a never-ending and possibly fruitless task. Or does one just abandon all that and merely listen with pleasure to a constantly-shifting world of sound and emotion as conveyed by some excellent performers? It is an awful lot easier.
Sebastian Scotney, The Arts Desk
Tatsächlich hat diese Musik immer wieder etwas Somnambules. […] Das Leiden des Dichters ist in den Texten des österreichischen Autors Händl Klaus ebenso zu erspüren wie in der Komposition. Diese bedient sich auch unkonventioneller Praktiken wie etwas der Verwendung des Cymbals – dessen Glissandi eine eigene Traumebene konstituieren. Und dann sind da die Sänger wie Sarah Maria Sun, Juliane Banse und zuvörderst Christian Gerhaher als Nikolaus Lenau. Dem Bariton hat Holliger sein komplexes, die Romantik sezierendes Opus besonders zugeeignet. Unter der Leitung des Komponisten agieren Philharmonia Zürich und Basler Madrigalisten traumsicher zusammen.
Alexander Dick, Badische Zeitung
In both his own music and as a conductor, Heinz Holliger has long been fascinated by the connections between creativity and mental health issues, and drawn to exploring the lives and work of composers and other artists whose lives have been affected by both. […] in 2014 he composed a song cycle for the baritone Christian Gerhaher based on fragments of text by the Austrian Romantic poet Nikolaus Lenau (1802-1850), written during the final six years of his life, which were spent in an asylum. That Lenau song cycle provided Holliger with the framework for the opera ‚Lunea‘, subtitled ‚Lenau scenes in 23 leaves from a life‘, which received its premiere at the Zurich Opera in 2018 with Gerhaher as Lenau […] Händl Klaus’s libretto, in which the original song cycle fragments are embedded, depicts episodes from the poet’s life (including his trip to the US in 1832, and his attempt to start a new life there), but presents them in a non-narrative, entirely non-linear way, as if recalled randomly by Lenau in a dream. There are just five solo singers – three sopranos who play seven characters in Lenau’s life, and two baritones […] A chorus of 12 voices echoes the protagonists, but though the sound world is hugely varied and imaginative, the ensemble of 14 players is only rarely used as a whole, so that the textures are always spare and chamber-like, the mood always intimate yet intense. […] the intricate patchwork of musical, historical and literary allusions never overwhelms the central, tragic portrait of Lenau, which Gerhaher projects so potently. The rest of the cast is equally impressive, especially Ivan Ludlow as Schurz and Juliane Banse as Sophie von Löwenthal, a married woman with whom Lenau had an intense though apparently platonic relationship. There’s no pretending that ‘Lunea’ is an easy work to get on terms with, it’s never straightforward. But it is an immensely imaginative opera, full of very beautiful, fragile music.
Andrew Clements, The Guardian
Mit welcher obsessiven Energie sich Heinz Holliger in die Psyche seines Protagonisten versenkt, ja sich geradezu in ihr eingenistet hat, verrät schon die Abbildung auf dem Cover des Doppelalbums von ‘Lunea’. Sie zeigt eine Seite aus dem Libretto, übersät mit Notaten in feinster Schrift: Textbruchstücke, die bis in die einzelnen Laute hinein mehrfach gedreht und gewendet und mit immer wieder anderen Tonfolgen kombiniert werden. Eine akribische Auslegeordung der kompositorischen Möglichkeiten im Mikrobereich, auf deren Basis die experimentelle Sprachbehandlung des Librettisten Händl Klaus ins Musikalische hinein verlängert wird. Im klanglichen Resultat schlägt sich das hörbar nieder. In den sensibel gestalteten, gestenreichen Klangzuständen spiegelt sich das dissoziierte Ich des Dichters Nikolaus Lenau, der 1850 geistig umnachtet in einer Klinik in Oberdöbling bei Wien starb. Sein psychischer Zerfallsprozess wird in dreiundzwanzig kurzen Szenen protokolliert. […] Die kompositorische Dichte macht eine szenische Realisierung im Grunde genommen überflüssig, denn das Drama entfaltet sich rein in der Musik. Die CD erweist sich damit als passendes Medium, im Gegensatz zu manch anderen Bühnenwerken vor allem der Moderne, die stärker von der Szene her konzipiert sind und erst auf Bildtonträger richtig zur Geltung kommen. Die sorgfältige redaktionelle Aufbereitung durch das Label ECM lässt dabei auch in informativer Hinsicht keine Wünsche offen.
Max Nyffeler, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der hochsensible, visionär verrückte Lenau präsentiert sich in der Interpretation durch Christian Gerhaher von Anfang an mit geradezu unter die Haut kriechender klanglicher Intensität. […] Auch wenn die nicht chronologische Abfolge der sogenannten Lebensblätter unmittelbar Fragmentarisches suggeriert, so sorgt die hochexpressive und farbenreiche Musik dennoch in gut 90 Minuten für eine in sich geschlossene Entwicklung. Der Zustand geistiger Umnachtung vermittelt sich aber nicht nur dank der durchgehend ergreifenden Interpretation aller Beteiligten, sondern schlummert bereits im Titel der Oper. ‘Lunea’ nutzt nicht nur Buchstaben ihres Protagonisten Lenau, sondern spielt auch auf den Mond an, den Lenau als ein ‘leuchtendes, schwebendes Grab’ beschreibt. […] Entscheidend bleibt für Heinz Holliger die Stimme, die ‘alles über eine Seele sagt und umgekehrt erklingt die Seele durch die Stimme’. Und die klangliche Ausgestaltung dieser eindringlichen Produktion bestätigt diese These durchaus überzeugend.
Yvonne Petitpierre, Deutschlandfunk
The beautiful music on the album keeps things afloat. A chamber feel inheres; the orchestra rarely appears all at once. The opening is incantatory, with Lenau monotonously intoning his lines backed by swelling back clarinet and umbral resonant gongs. There are striking duets and trios, such as in the eighth leaf, when the beloved Sophie and the fiancée Marie have a sprightly song in imitative counterpoint over jingling bells and a high shimmering violin. […] Christian Gerhaher is formidable as Lenau, at ease in the atonal idiom. His emotional range runs the gamut from at-wits’-end to shocked hush. Juliane Banse is similarly impressive as Sophie and Mother, kindling with a burnished tone the high-wire expressionism and playful ‘Sprechgesang’ alike.
Liam Cagney, Gramophone
Holligers Klangsprache ist in der Vermittlung der Flüchtigkeit, Sprunghaftigkeit und Zerissenheit der Lenau-Psyche ungeheuer vielschichtig und detailreich […] Im Rahmen einer Klangrhetorik der Empfindlichkeit und Überreiztheit trägt sich das eigentliche Drama vor allem in der Musik zu […] Mit Christian Gerhaher verbindet Holliger eine langjährige Zusammenarbeit, die mit der Uraufführung der ‘Lunea-Lieder’ 2014 ihren Anfang nahm (Initialzündung der späteren Oper). Er dringt ohne Vordergründigkeit tief in die Befindlichkeiten der Hauptfigur ein, ohne deren offenkundigen Wahnsinn unnötig zu überzeichnen. […] Auch die Nebenpartien sind von mehrdimensionaler ‘Identität’. Drei Sängerinnen (Juliane Banse, Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller) müssen sieben Frauenfiguren zwischen Mutter, Schwester und diversen Geliebten bestreiten, zwischen denen sich Lenaus Dasein verzettelte und sie tun dies mit bemerkenswerter Wandlungsfähigkeit. So entstehen manch beeeindruckende Ensemble-Konstellationen, die ihren Reiz gerade daraus beziehen, dass ihre Akteure praktisch in ihrer je eigenen Welt leben und singen. Eine ganz entscheidende Rolle kommt in ‘Lunea’ jedoch dem Chor zu. Lange hat man keine zeitgenössische Oper mehr mit einer derart substantiellen Einbeziehung des Chors gehört […] Von den ersten stammelnden Worten bis zur Entmaterialisierung der Musik im letzten ‘Blatt’ ist die Reise durch Lenaus Kopf von elektrisierender Klangpräsenz getragen.
Dirk Wieschollek, Neue MusikZeitung
Heinz Holliger nimmt mit seinen nun 83 Jahren eigentlich die Position des Doyen in der Schweizer Musik ein, aber doyenhaft verhält er sich kaum. Vielmehr geht er ständig weiter – als Dirigent, Kammermusiker und natürlich als Komponist. Ein grandioser Höhepunkt seines jüngsten Schaffens ist etwa die Traumoper ‘Lunea’ […] In 23 Stationen, sogenannten ‘Lebensblättern’, wird die Biographie des romantischen Dichters Nikolaus Lenau aufgefächert, der am Rand der Gesellschaft lebte, Grenzen überschritt, nach einem Schlaganfall innerlich zerrissen war und am Ende in einer Nervenheilanstalt starb. Das ist keine Handlungsoper, sondern eher ein Kalender aus Aphorismen und Gedichtfragmenten. Daraus entsteht paradoxerweise doch ein dramatisch schlüssiges und fast eingängiges Theater, eine Art verwinkelter Lebensraum, ein kaleidoskopartiges Psychogramm, das sich allmählich über hundert Minuten entspinnt: traumhaft bis hin zum subtil ausfädelnden Schluss. Es funktioniert auch auf CD, allein dank des Baritons Christian Gerhaher in der Titelrolle.
Thomas Meyer, Jazz’n’more
Holligers Musik mag ja ohnehin schon ungemein differenziert sein . Hier allerdings fällt doch eine nochmals bereicherte Palette an Farben und Spielweisen auf. Der Perkussionsapparat ist stark erweitert (etwa um Waschbrett, Geophon, Laub und Backpapier) und lässt zuweilen fast elektronisch wirkende Klänge entstehen: Von hartem, fast gläsernem Zauber. […] Vor allem aber: Die Vokallinien atmen wahrhaft. Schließlich ist ‘Lunea’ von ungewöhnlicher, manchmal schneidender Strahlkraft und eigenwilliger Schönheit und auch in dieser Hinsicht ein vielschichtiges Meisterwerk. Vielleicht spürt man darin auch, wie eng verknüpft es mit dem Bariton Christian Gerhaher ist. Er leiht der Titelfigur seine außerordentlich klare, wandlungsfähige Stimme und bündelt gleichsam in die Komplexität in einer Person.
Thomas Meyer, Neue Zeitschrift für Musik
Lenaus Suche nach einem Du, die sich auch in der Häufung von Duetten und Terzetten äußert, führt musikalisch in ein Spiegelkabinett aus dekonstruiertem Motivmaterial. Dabei wird Kunst als Sinngebung fragwürdig und jedem Anspruch von Kunst als Ersatzreligion das Wasser abgegraben. Lenaus Glaube, seine geliebte Guarneri-Geige könne ihn heilen, er könne sich durch die Kunst selbst ‘retten’, hat ihre Überzeugungskraft verloren. Und dennoch: Immer wieder blüht bei Holliger etwas auf und leuchtet, bevor es vergeht. Aus zerbrochenem Tonmaterial formt sich stets wieder Neues, das von Lebens- und Gestaltungskraft zeugt. Und so ist diese Oper eine großangelegte Begegnung mit einer gewesenen Welt, aus deren Trümmern Saaten hervorbrechen. Zentral für die Kohärenz des Ganzen ist Holligers rhythmische Präzision, durch die die Fliehkräfte des Ton- und Textmaterials immer wieder auf bestimmte Grundpulse zurückgeführt werden. Das ist besonders gut zu beobachten in den Clusterbildungen des 16. oder auch den Klangteppichen des 17. Lebensblattes, in dem Lenau die Welt zu Asche zerfällt, aus der sich magisch Vogelstimmen erheben. In immer kleineren Klangverwandlungen wird gegen Ende hin eine ungeheuerliche atmosphärische Dichte erzeugt, die gleichzeitig eine fast Kurtág’sche Leichtigkeit hat.
Bernhard Malkmus, Klassik Info