Paul Hindemith / Alfred Schnittke

Anna Gourari, Orchestra della Svizzera italiana, Markus Poschner

EN / DE
After three acclaimed solo piano programmes for the label, here Anna Gourari widens the instrumental spectrum with the Lugano-based Orchestra della Svizzera italiana under Markus Poschner’s direction in striking performances of Alfred Schnittke’s Concerto for Piano and String Orchestra and Paul Hindemith’s The Four Temperaments. Gourari’s pianistic command is one of “virtuoso polish and with flawless action”, to quote the German daily Süddeutsche Zeitung, and her holistic, wide-reaching grasp of the instrument is on full display in Schnittke’s shape-bending polystylistic concerto. The orchestra furthermore shines in a powerful interpretation of Hindemith’s Symphony Mathis der Maler. Contrasts emerge not only through the juxtaposition of the three works but from within the pieces, which have fiery temperaments and technically demanding scores in common. Recorded at the Auditorio Stelio Molo in Lugano in December 2021, the album was produced by Manfred Eicher.
Nach drei erfolgreichen Soloklavierprogrammen für ECM erweitert Anna Gourari hier das instrumentale Spektrum mit dem Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Markus Poschner in eindrucksvollen Darbietungen von Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streichorchester und Paul Hindemiths Die vier Temperamente. Gouraris Klavierkunst ist, so die Süddeutsche Zeitung, von "virtuosem Schliff und makellosem Spiel", und ihr ganzheitliches, weitreichendes Verständnis des Instruments kommt in der polystilistischen Musik Schnittkes voll zur Geltung. Zudem glänzt das Orchester in einer kraftvollen Interpretation von Hindemiths Symphonie Mathis der Maler. Kontraste entstehen nicht nur durch die Gegenüberstellung der drei Werke, sondern auch innerhalb der Stücke, die feurige Temperamente und einen großen technischen Anspruch gemein haben. Das Album wurde im Dezember 2021 im Auditorio Stelio Molo in Lugano aufgenommen und von Manfred Eicher produziert.
Featured Artists Recorded

December 2021, Auditorio Stelio Molo RSI, Lugano

Original Release Date

14.06.2024

  • 1Konzert für Klavier und Streichorchester
    (Alfred Schnittke)
    23:12
  • Sinfonie "Mathis der Maler"
    (Paul Hindemith)
  • 2Engelkonzert. Ruhig bewegt08:43
  • 3Grablegung. Sehr langsam04:26
  • 4Versuchung des heiligen Antonius. Sehr langsam, frei im Zeitmaß13:57
  • Thema mit vier Variationen "Die vier Temperamente"
    (Paul Hindemith)
  • 5Thema. Moderato06:06
  • 6Melancholisch. Langsam06:16
  • 7Sanguinisch. Walzer05:53
  • 8Phlegmatisch. Moderato04:40
  • 9Cholerisch. Vivace06:38
Das Eingangsmotiv hat Alfred Schnittke der Türglocke seiner damaligen Moskauer Wohnung abgelauscht – und es zu einem der zentralen Intervalle in seinem Konzert für Klavier und Streicher gemacht. Anna Gourari spielt das zart und wie eine offene, im Ungefähren verhallende Frage. Auch die düsteren Basstöne wirken anfangs verhalten, bevor sie schließlich einen bedrohlichen Charakter annehmen. Schnittkes Konzert besteht aus nur einem Satz, aber aus acht aufeinander folgenden Abschnitten. Die lange Solo-Passage zu Beginn deutet Anna Gourari wie eine Fantasie: verträumt, sich treiben lassend und sensibel der Einsamkeit dieser Musik nachlauschend. Wenn dann das Orchester einsetzt, weitet sich der Charakter und macht alle Gedanken, die an einen harmlosen Türglocken-Ton erinnern, vergessen.  Das Orchestra della Svizzera Italiana spielt unter Markus Poschner ungemein direkt, als solle nichts beschönigt werden. Dank einer großen Transparenz hat diese Passage etwas Fesselndes, Zupackendes […] Was mich an dieser Aufnahme überzeugt, ist die Wahl der gewählten Tempi. Es gibt Einspielungen, bei denen dieses Konzert weniger als 20 Minuten dauert, oder aber rund 26 Minuten – eine enorme Spannweite. Anna Gourari und das Orchester der italienischen Schweiz bewegen sich genau in der Mitte – aber sie liefern kein Mittelmaß. Der Ausdruck wird in unterschiedlichste Richtungen verdichtet, aber ohne Extreme. Vielmehr zeugt ihre Mitte von einer guten Balance. Das bekommt dieser Musik sehr gut.
Christoph Vratz, Südwestrundfunk
 
Wenn sich in den Werken von Paul Hindemith und Alfred Schnittke immer auch die musikalische Vergangenheit spiegelt und dabei bis zu Bach zurückgeht, dann war das nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Denn Hindemiths und Schnittkes Umgang mit dem Erbe lief nicht etwa so schablonenhaft wie etwa bei Strawinski ab. Bei beiden entwickelten die Rückbezüge und Rückgriffe auf Zitate und Formen eine Kraft, die im 20. (Katastrophen-)Jahrhundert etwas Trost spenden konnte. […] Davon berichtet denn auch die fantastische, weil spannungsgeladene und unter die Haut gehende Einspielung von Anna Gourari und dem Orchester der italienischen Schweiz unter Markus Poschner. […] Und während das Orchester den ungeheuren Reichtum der ‘Mathis’-Partitur mit einer bisweilen klangluxuriösen Großzügigkeit präsentiert, erlebt man bei den ‘Vier Temperamenten’ Anna Gourari als eine voller Lust und Leidenschaft zupackende Prima inter Pares.
Guido Fischer, Rondo
 
Ein interessantes Programm und sehr gute Interpretationen machen dieses neue Album attraktiv. Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher beginnt mit einer langen Solo-Passage, die Anna Gourari spannend gestaltet, ehe dann Streicher mit einer bedrohlichen Geste hinzustoßen, worauf das Klavier zunächst ungehalten und harsch antwortet, ehe die Stimmung etwas schräg wird. Die Spannung bleibt erhalten und das Konzert entwickelt sich in dieser Interpretation total fesselnd weiter. Die Atmosphäre bleibt immer geheimnisvoll […] Markus Poschner bringt ein gleicher Art genuines Verständnis für Hindemiths Mathis-Symphonie mit, die er mit einer absoluten Perfektion und einem rigorosen Ausdruck zu gestalten weiß. Das Orchestra della Svizzera Italiana befindet sich in Höchstform und bringt klanglich alles mit, was Hindemiths Musik verlangt. Es folgt dann noch Hindemiths abstrakte, d.h. handlungslose Ballettmusik ‘Die Vier Temperamente.’ […] Die Musik beschreibt die Stimmungen den Temperamenten entsprechend, und in dieser Interpretation werden sie, wie ich finde, ganz besonders gut differenziert. Poschner und Gourari bringen Feuer und Leidenschaft in die sanguinischen und cholerischen Variationen und die notwendigen lyrischen Linien in die beiden anderen Teile.Das Orchesterspiel musiziert erneut auf einem sehr hohen Niveau, Gourari spielt spannungsvoll und expressiv. Die Tonaufnahme ist vorzüglich, mit einer perfekten Balance und einer großen Klarheit im immer dichten Klangbild.
Remy Frank, Pizzicato
 
Es sind komplexe, schwierige Werke, die sich Anna Gourari für ihr Album ausgewählt hat. Die Pianistin aus Tatarstan spielt das Konzert für Klavier und Streicher von Alfred Schnittke und ‘Die vier Temperamente’ von Paul Hindemith. Dabei kann sie ihre technische und interpretatorische Brillanz voll ausspielen. Ihre ‘Begleiter’ – das Orchestra della Svizzera italiana unter Markus Poschner – glänzen zudem mit Hindemiths  Sinfonie ‘Mathis der Maler’.
Frank von Niederhäusern, Kulturtipp
 
Un titanesque programme, défendu avec conviction par les interprètes. (…) Réduit à un seul mouvement d’environ 25 minutes, le Concerto de Schnittke passe de la dissonance agressive à la consonance apaisante, du jazz instrumental aux chants de l’Eglise orthodoxe, de la nuée fantomatique à la plasticité acérée. Et pourtant, il tient l’auditeur en haleine par sa capacité d’interrogation.
Pierre Gervasoni, Le Monde
 
Listening to these excellent performances of Schnittke and Hindemith’s works for piano and strings connections began to present themselves. In Schnittke’s Concerto for Piano and String Orchestra, one initially hears the pastiche of disparate styles for which he was both renowned and reviled. But below the surface lurk repeated motifs, chorales, even tone clusters being transformed in a way that suggests a deeper logic to the music’s unfolding. […] Conversely, Hindemith’s score for the ballet ‘The Four Temperaments’ has a surprisingly expressive range despite the strict variation form that undergirds it. […] The cohesive impression is aided mightily by Gourari’s sensitive yet exacting performances, and by the conductor Markus Poschner’s sympathetic accompaniment. He and the Orchestra della Svizzera Italiana also bring a welcome lightness of touch to Hindemith’s ‘Mathis der Maler’ Symphony.
David Weininger, The New York Times
 
Ballet de Hindemith sur ‘Les Quatre Tempéraments’ leur convient beaucoup: la sophistication de l’ecriture des cordes y est avivée avec finesse et la pianist virevolte avec un mélange d’élégance et d’esprit qui revisite avec fraicheur une partition où bien d’autres ennuient, retrouvant par instants la grâce qu’y mettait jadis Clara Haskil.
Pascal Brissaud-Ecrepont, Classica
 
Anna Gourari arbeitet das Profil dieser hochindividuellen Werke mit leidenschaftlicher Detailgenauigkeit aus, und Markus Poschner leitet das Orchester mit so souveräner Entspanntheit, dass selbst in den dramatischen Steigerungen des Schnittke-Konzertes oder im dritten Satz der Mathis-Sinfonie der Orchesterklang nie forciert wirkt, sondern immer gestisch ausgeformt erscheint.
Frank Siebert, Fono Forum
 
Eine exzellente Darbeitung sonst kaum beachteten Repertoires.
Hans-Dieter Grünefeld, Piano News
EN / DE
In a programme that combines Alfred Schnittke’s Concert for piano and string orchestra with Paul Hindemith’s Symphony Mathis der Maler and the composer’s The Four Temperaments, pianist Anna Gourari together with the Lugano-based Orchestra della Svizzera italiana under Markus Poschner shines in powerful performances that dress these idiosyncratic and contrasting works in beaming colours. The recording, captured at the Auditorio Stelio Molo – abound with sonic detail –, undergirds both the counterpuntal fabric of Hindemith’s neoclassical leaning repertory, and the polystilistic maze of Schnittke’s Concerto, where, according to the composer himself “everything – unable to create the balance between ‘sunshine’ and ‘storm clouds’ – shatters finally into a thousand pieces”.
 
“The individuality of an artist is shown by the fact that one is courageous and open to foreign influences. Then all that arrives from outside becomes your own.” What may sound like a casual observation of Schnittke’s, in actuality represents the German-Russian composer’s arguably most important guiding principle in regard to his compositional approach. Rather than compulsively trying to reinvent the wheel, Schnittke, as Roman Brotbeck puts it in his liner note, “understood his composing solely as an act of perception”: "I don’t see my mission in making up and creating music,” Schnittke said, “but rather listening to it. It’s about not disturbing my ear when listening to what’s happening outside of me.”
 
Flourished with quotes and references, borrowed as much from music’s history as from the composer’s everyday-life (one motif corresponds to the doorbell of his Moscow apartment at the time), Schnittke’s Concert for piano and string orchestra unfolds like a storm, dissonant passages of stark chromaticism interlaced with outbursts of rumbling rhythms, crescendoeing in exuberant classical cadences of traditional harmonic design. The composer chose playful images to describe different parts of his piece, speaking of “surrealistic shreds of sunrise from orthodox church music" as well as "a false burst of Prokofievian energy” and “a blues nightmare". The interpretation here brims with dynamic nuance, bringing out the adventurous score’s rich potential.
 
The Hindemith share of the album begins without piano, presenting the orchestra in a compelling performance of the Symphony Mathis der Maler. Based on three parts of the Isenheim Altarpiece, sculpted and painted by the Germans Nikolaus von Hagenau and Matthias Grünewald, Hindemith thoughtfully translated Grünewald’s pictorial language into music. The composer would later integrate the symphony into the opera Mathis der Maler, premièred in 1938, where the symphony’s first movement, Engelkonzert, – though structured as a traditional sonata form – became the overture.
 
Thematically hinged on a late medieval song, the first movement bears contours of music far earlier than the 20th century, but viewed through the transfiguring modern perspective of the composer who redefined “free tonality” on the basis of relations within the chromatic scale, as elaborated upon in his detailed 1941 treatise “The Craft Of Musical Composition”. The contemplative second movement Grablegung and expansive third movement Versuchung des heiligen Antonius persist with intricate thematic development, brought forth by a confident orchestral display.
 
Anna Gourari returns for the closing work, Hindemith’s The Four Temperments. Originally conceived as a ballet for Léonide Massine, Hindemith – just recently exiled in the US – ultimately completed the score as a commission for George Balanchine, basing it on the Greek theory of temperaments, while its formal conception is a theme with four variations. “The piano appears in all parts,” Roman Brotbeck remarks in the liner notes. “Sometimes as a virtuoso soloist, sometimes as an obbligato accompanist or rhythmically propelling. In this recording, soloist Anna Gourari slips into the various roles like a chameleon and, together with conductor Markus Poschner, unleashes a fantastically surreal dance.”
 
Recorded in Lugano’s Auditorio Stelio Molo, in December 2021, the album was produced by Manfred Eicher.
 
The album includes liner notes by Roman Brotbeck in German and English.
  
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The marvel of Gourari’s playing is the combination of intuitive pacing, propulsive phrasing and rhythmic inflection that makes music spring to life with explosive power. The melding of physicality and thoughtfulness arises again and again – every note has a purpose.  – Fanfare
 
Anna Gourari was born in Kazan (Republic of Tatarstan) and has been based in Germany since 1990. A musician steeped in the venerable Russian piano school, the pianist had already garnered many accolades, including winning the Clara Schumann piano competition in 1994 (with Martha Argerich, Vladmir Ashkenazy, Nelson Freire i.a. in the jury), and released a number of recordings for Decca, Edel and Koch Classics before she made her ECM debut with 2012’s Canto Oscuro – a set of “dark songs” with music by Bach, Hindemith and Sofia Gubaidulina. Further recordings followed with 2014’s Visions Fugitives and Elusive Affinity from 2019, spanning works from multiple centuries, including music by Giya Kancheli, Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Prokofiev, Medtner, Chopin etc. Anna is a revered international performer of both chamber music and as a soloist and has collaborated with conductors Sir Colin Davis, Iván Fischer, Lorin Maazel, Kirill Petrenko and many more. Composers Rodion Shchedrin and Jörg Widmann have written and dedicated compositions to her.
 
In diesem Programm, das Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streichorchester der Symphonie Mathis der Maler und den Vier Temperamenten von Paul Hindemith gegenüberstellt, ist die Pianistin Anna Gourari nach ihren drei Solo-Einspielungen für ECM New Series zum ersten Mal in einem größeren orchestralen Kontext zu erleben:  zusammen mit dem Luganer Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Markus Poschner. Die im Auditorio Stelio Molo festgehaltene Einspielung untermauert sowohl den anspruchsvollen Kontrapunkt von Hindemiths zum Neoklassizismus tendierendes Repertoire als auch das polystilistische Gefüge von Schnittkes Konzert, in dem, wie der Komponist selbst anmerkte, „alles – außerstande, das Gleichgewicht zwischen ‚Sonnenschein’ und ‚Sturmwolken’ herzustellen – endlich in tausend Stücke zerspringt“.
 
„Die Individualität eines Künstlers zeigt sich dadurch, dass man mutig und offen den fremden Einflüssen gegenübersteht. So wird alles, das von draußen kommt, zu Eigenem.“ Was wie eine beiläufige Bemerkung Schnittkes klingen mag, gehört in Wirklichkeit zur Kernphilosophie des deutsch-russischen Komponisten hinsichtlich seines kompositorischen Vorgehens. Statt des zwanghaften Versuches, das Rad neu zu erfinden, verstand Schnittke, wie Roman Brotbeck im CD-Begleittext bemerkt, "sein Komponieren ausschließlich als einen Akt der Wahrnehmung": „Meine Aufgabe sehe ich nicht darin, Musik auszudenken, zu schaffen,“ sagt Schnittke, „sondern zu hören. Es geht darum, mein Ohr nicht zu stören beim Hören dessen, was außerhalb von mir existiert.“
 
Mit Zitaten und Referenzen geschmückt, die sowohl auf die Musikgeschichte als auch auf den Alltag des Komponisten verweisen (ein Motiv entspricht der Türklingel seiner damaligen Moskauer Wohnung), entfaltet sich Schnittkes Konzert für Klavier und Streichorchester wie ein Sturm, in dem sich chromatisch-dissonant angelegte Passagen mit rasanten rhythmischen Ausbrüchen abwechseln und, im Crescendo, in übersprudelnden Kadenzen traditioneller harmonischer Gestaltung kulminieren. Der Komponist selbst wählte spielerische Bilder, um die diversen Teile seines Stücks zu beschreiben, und sprach von „surrealistischen Sonnenaufgangsfetzen von orthodoxer Kirchenmusik“ ebenso wie von einer "falschen Prokofjew-Aktivität" und einem "Blues-Albtraum". Die vorliegende Interpretation ist dynamisch feingliedrig angelegt und bringt das große Potenzial der ausgefeilten Partitur zur Geltung.
 
Das Orchestra della Svizerra italiana steht in dem darauffolgenden Werk im Mittelpunkt, in der Symphonie Mathis der Maler. Basierend auf drei Teilen des Isenheimer Altars, von Nikolaus von Hagenau geschnitzt und von Matthias Grünewald gemalt, übersetzte Hindemith Grünewalds Bildsprache mit großer Sorgfalt in Musik. Später integrierte der Komponist die Sinfonie in die 1938 uraufgeführte Oper Mathis der Maler, deren erster Satz, das Engelkonzert, – obwohl in traditioneller Sonatenhauptsatzform angelegt – zur Ouvertüre wurde.
 
Das Hauptthema des ersten Satzes ist an ein spätmittelalterliches Lied angelehnt und birgt somit Merkmale einer Musik, die weit vor dem 20. Jahrhundert entstanden ist, hier jedoch durch die moderne Perspektive jenes Komponisten betrachtet wird, der die "freie Tonalität" auf der Grundlage von Beziehungen innerhalb der chromatischen Tonleiter neu definierte – näheres dazu beleuchtete er in seiner ausführlichen Abhandlung "Unterweisung im Tonsatz" von 1941. Der kontemplative zweite Satz Grablegung und der ausführliche dritte Satz Versuchung des heiligen Antonius führen die thematische Weiterentwicklung konsequent fort.
 
Anna Gourari ist wieder auf dem abschließenden Werk als Solistin zu hören, in Hindemiths Die vier Temperamente. Ursprünglich als Ballett für Léonide Massine konzipiert, vollendete Hindemith – zu dieser Zeit erst seit kurzem in der USA im Exil – die Partitur schließlich als Auftragswerk für George Balanchine, wobei er sich auf die griechische Theorie der Temperamente stützte. "Das Klavier spielt in allen Teilen", bemerkt Roman Brotbeck in seinem Text, "mal solistisch virtuos, mal obligat begleitend oder rhythmisch anpeitschend. In dieser Aufnahme schlüpft die Solistin Anna Gourari wie ein Chamäleon in die unterschiedlichen Rollen und entfesselt zusammen mit dem Dirigenten Markus Poschner einen fantastisch surrealen Tanz."
 
Das Album, aufgenommen im Dezember 2021 im Auditorio Stelio Molo in Lugano, wurde von Manfred Eicher produziert.
  
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Die Pianistin Anna Gourari beweist seit Jahren, dass sie wie wenige andere prädestiniert ist für Zwischentöne, für feinste Nuancen, für atemberaubende Stimmungswechsel binnen weniger Noten. Gefühlsvolles Klavierspiel, die Seele offenbarend und trotzdem nicht eine Sekunde sentimental. – BR Klassik
 
Anna Gourari wurde in Kasan (Republik Tatarstan) geboren und lebt seit 1990 in Deutschland. Die in der anspruchsvollen russischen Klavierschule verwurzelte Pianistin hatte bereits viele Auszeichnungen erhalten, darunter den Gewinn des Clara-Schumann-Klavierwettbewerbs 1994 (mit Martha Argerich, Vladmir Ashkenazy, Nelson Freire u.a. in der Jury), bevor sie 2012 mit Canto Oscuro ihr ECM-Debüt gab – eine Reihe "dunkler Lieder" mit Musik von Bach, Hindemith und Sofia Gubaidulina. Weitere Aufnahmen folgten mit Visions Fugitives (2014) und Elusive Affinity (2019), die Werke aus mehreren Jahrhunderten umfassen, darunter Musik von Giya Kancheli, Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Prokofiev, Medtner, Chopin usw. Anna Gourari ist eine Kammermusikerin und Solistin von internationalem Rang und hat mit den Dirigenten Sir Colin Davis, Iván Fischer, Lorin Maazel, Kirill Petrenko und weiteren zusammengearbeitet. Die Komponisten Rodion Shchedrin und Jörg Widmann haben ihr Kompositionen gewidmet.