1963 bittet Pier Paolo Pasolini den russischen Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko, die Rolle des Christus zu spielen in seinem Film Das 1. Evangelium – Matthäus. Pasolini wollte einen Dichter und Kommunisten als Jesus. In den von Christian Reiner vorgetragenen Texten des italienischen Filmemachers, Dichters und Essayisten sind der katholische Glaube, die Kunst des Dichtens und die sozialen Probleme in Italien zentral. Das „Land der Arbeit“ ist gleichzeitig eine Gesellschaft der Armen. Im Zug, der durch die italienische Landschaft fährt, sitzen Menschen, denen die Trauer über den Verlust der Vergangenheit anzusehen ist. Ihre Geschichte ist ihnen entzogen worden. Für das lyrische Ich handelt es sich um Figuren, die im Prozess der Industrialisierung seelisch und materiell enteignet wurden. Das Fortschreiten des Kapitalismus ist für Pasolini verbunden mit dem Tod der Bauern und Handwerker, dem Ende der Geschichte. Wolf Wondratschek, der mit Christian Reiner die Texte ausgewählt und gemeinsam mit dem Produzenten Manfred Eicher für dieses Album gestaltet hat, weist in seinem Vorwort darauf hin, dass Pasolini den Kontakt zu einer Welt ohne Klassenschranken suchte, zu den Landwirten, zu den Arbeitern und zum Subproletariat. Der linke Pasolini hat in seinem Text „Patmos“ den Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969 literarisch kommentiert. Er verknüpft die Biographien der Ermordeten mit Sätzen aus der Offenbarung des Johannes, mit Hinweisen auf die politische Situation, die neofaschistischen Aktivitäten in Italien. Patmos ist die griechische Insel, auf der Johannes seine Offenbarung verfasst hat.
Die CD Land der Arbeit zeigt Pasolini von seiner persönlichen Seite. Er spricht vom Dichten, einer Tätigkeit, die ihm viel Zeit in Anspruch nimmt. Er hat seinen Tod vor Augen, nimmt die abnehmende Lebenszeit wahr, die verlorene Jugendlichkeit. Pasolini ist ein Melancholiker, ein Pessimist, der sich mit größter Kraft für die Armen einsetzt, die Ungerechtigkeiten in Italien kritisiert. Berührend ist die „Bitte an seine Mutter“, die den Charakter eines Gebetes besitzt und deutlich macht, warum Pasolinis Mutter die gealterte Maria in seinem Film über Jesus spielt. Christian Reiner trägt Pasolinis Texte sachlich und unprätentiös vor, dem Rhythmus der Silben folgend. Seine Pausen zwischen den Sätzen und Versen erzeugen den Zusammenhang. Das Pathos ergibt sich aus Pasolinis Empörung über die historische Situation. Wolf Wondratschek nähert sich dem italienischen Künstler auf erzählerischem und lyrischem Weg, in zwei Gedichten und einem erläuternden Text.
Dieser Zusammenarbeit zwischen Wolf Wondratschek, Manfred Eicher und Christian Reiner ging zuletzt das Album Joseph Brodsky – Elegie an John Donne (ECM 2513) voraus. Im Jahr 2012 erschien Turmgedichte (ECM 2285) mit Werken von Friedrich Hölderlin, ein Album, dessen Radikalität der Darbietung von der Presse hervorgehoben wurde. „Langsam, fast zeremoniell, doch ohne Pathos, ohne dramatische Zuspitzung. (..) Christian Reiner drängt den Hörer nicht in eine Interpretation hinein, sondern zieht ihn leise ins Zentrum der dichterischen Gedanken.“ Wolfgang Schreiber, SZ)