28.06.2024 | Reviews of the week
Anna Gourari’s new recording of works by Hindemith and Schnittke with the OSI Lugano directed by Markus Poschner is welcomed by German reviewers
Das Eingangsmotiv hat Alfred Schnittke der Türglocke seiner damaligen Moskauer Wohnung abgelauscht – und es zu einem der zentralen Intervalle in seinem Konzert für Klavier und Streicher gemacht. Anna Gourari spielt das zart und wie eine offene, im Ungefähren verhallende Frage. Auch die düsteren Basstöne wirken anfangs verhalten, bevor sie schließlich einen bedrohlichen Charakter annehmen. Schnittkes Konzert besteht aus nur einem Satz, aber aus acht aufeinander folgenden Abschnitten. Die lange Solo-Passage zu Beginn deutet Anna Gourari wie eine Fantasie: verträumt, sich treiben lassend und sensibel der Einsamkeit dieser Musik nachlauschend. Wenn dann das Orchester einsetzt, weitet sich der Charakter und macht alle Gedanken, die an einen harmlosen Türglocken-Ton erinnern, vergessen. Das Orchestra della Svizzera Italiana spielt unter Markus Poschner ungemein direkt, als solle nichts beschönigt werden. Dank einer großen Transparenz hat diese Passage etwas Fesselndes, Zupackendes […] Was mich an dieser Aufnahme überzeugt, ist die Wahl der gewählten Tempi. Es gibt Einspielungen, bei denen dieses Konzert weniger als 20 Minuten dauert, oder aber rund 26 Minuten – eine enorme Spannweite. Anna Gourari und das Orchester der italienischen Schweiz bewegen sich genau in der Mitte – aber sie liefern kein Mittelmaß. Der Ausdruck wird in unterschiedlichste Richtungen verdichtet, aber ohne Extreme. Vielmehr zeugt ihre Mitte von einer guten Balance. Das bekommt dieser Musik sehr gut.
Christoph Vratz, Südwestrundfunk
Wenn sich in den Werken von Paul Hindemith und Alfred Schnittke immer auch die musikalische Vergangenheit spiegelt und dabei bis zu Bach zurückgeht, dann war das nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Denn Hindemiths und Schnittkes Umgang mit dem Erbe lief nicht etwa so schablonenhaft wie etwa bei Strawinski ab. Bei beiden entwickelten die Rückbezüge und Rückgriffe auf Zitate und Formen eine Kraft, die im 20. (Katastrophen-)Jahrhundert etwas Trost spenden konnte. […] Davon berichtet denn auch die fantastische, weil spannungsgeladene und unter die Haut gehende Einspielung von Anna Gourari und dem Orchester der italienischen Schweiz unter Markus Poschner. […] Und während das Orchester den ungeheuren Reichtum der ‘Mathis’-Partitur mit einer bisweilen klangluxuriösen Großzügigkeit präsentiert, erlebt man bei den ‘Vier Temperamenten’ Anna Gourari als eine voller Lust und Leidenschaft zupackende Prima inter Pares.
Guido Fischer, Rondo
US and German media praise the new live recording September Night by the Tomasz Stanko Quartet
On a cool September evening in 2004, the Tomasz Stanko Quartet walked onto the Munich, Germany stage. That show was a culmination of an extensive tour of both the US and Europe for popular trumpeter Stanko. Surrounded by youthful Polish musicians, (who Stanko had mentored), Tomasz brought distinctive and sometimes rough-sounding tones on trumpet, along with drama to the concert spotlight. This work with his mentees would lift Stanko’s popularity to a new level of recognition. Tomasz Stanko was a true master and leader on the European jazz scene. […] The Stanko Quartet’s Muffathalle concert of September 2004 was presented in the context of a symposium for improvised music, under the banner headline ‘Unforeseen’ and co-curated by Munich’s Kulturreferat and the musicology department of the Ludwig Maximillian University. It was a previously unreleased package of beauty, sitting on a shelf somewhere. What a blessing to finally present it for public consumption.
Dee Dee McNeil, Making A Scene
The late trumpeter Tomasz Stanko was a one-of-a-kind player with a gift for drawing out the beauty of melody within a sophisticated musical universe of common sense and emotional lyricism. For more than four decades, he spawned a slew of his own projects. ‘September Night’, a posthumously released album recorded live at Muffathalle, Munich, in 2004, finds him at the peak of his capacities alongside his emblematic Polish quartet. […] In possession of an astonishing rapport, Stanko and his quartet merge as one. ‘September Night’ is a lush of an album, whose music continues to resonate and inspire.
Filipe Freitas, Jazz Trail
Das Quartett agiert enorm agil, eng verbunden und streckenweise geradezu leichtfüßig. Stanko, dessen Verbindung zu ECM, zu Produzent Manfred Eicher, fast 50 Jahre zurückreicht, ist in glänzender Verfassung. Flammendes solistisches Feuer wechselt mit einem tiefen lyrischen Ausdruck. Die Autorität dieses Fackelträgers des europäischen Jazz ist hier allgegenwärtig. Diese Aufnahme (der Applaus wurde rausgenommen) hätte gut und gerne schon damals als Veröffentlichung zwischen den übrigen Alben erscheinen können. Essenzieller Stanko, gerade auch im Verhältnis zu den Studioproduktionen.
Arne Schumacher, Jazzthetik
The album My Prophet by Oded Tzur gets acclaim in Austria and Germany
Die fünf auf das Auftaktfragment folgenden Stücke sind alle zwischen siebeneinhalb und elf Minuten lang und bieten Pianist Nitai Hershkovits, Kontrabassist Petros Klampanis und dem neu zum Quartett gestoßenen, brasilianischen Drummer Cyrano Almeida jede Menge Raum zur Entfaltung ihrer kreativen Ideen. Klampanis’ geerdeter Bass und das gleichermaßen leichtfüßige wie zupackende Spiel des aus der afro-brasilianischen Candomblé-Tradition stammenden Schlagzeugers harmonieren perfekt. Hershkovits, der sich mit seinem im letzten Jahr erschienenen Album ‘Call On The Old Wise’ in einer imaginären Weltrangliste der Solo-Pianisten ziemlich weit nach vorne gespielt hätte, nützt seine Freiräume für aus unterschiedlichsten Quellen schöpfende, impressionistische Klangbilder und detailreiche, spannungsgeladene Improvisationen, die Oded Tzurs ausdrucksstarke Linien auf dem Tenorsax umspielen, akzentuieren und vorantreiben.
Peter Füssl, Kulturzeitschrift
Vokalisten wollen bisweilen sehr instrumental klingen, also virtuos Linien produzieren. Instrumentalkünstler wiederum streben oft danach, mit wenigen Noten ausdrucksstark zu wirken, als würden sie also gleichsam singen. Auf ‘My Prophet’ (ECM) zeigt der israelische Saxofonist Oded Tzur im Quartett, dass instrumentale Flexibilität und Sanglichkeit jedoch kein Widerspruch, vielmehr gut zu verbinden sind. Folkloristisch angehauchte Skalen formt er zu hymnischen Gesängen. Mit samtigem Ton langsam aufgebaut, mutieren sie zu impulsiven, mit plötzlich rauem Ton befeuerten Exaltationen. Fulminant und emotional dicht.
Ljubiša Tošić, Der Standard
Spiritual Jazz im besten Sinne […] Oded Tzur (ts) und Nitai Hershovits(p) ergänzen sich perfekt, in Themen und Improvisationen. Der Pianist ebnet mit seinem sehr packenden persönlichen Stil voller glockenheller Ornamente und auch immer wieder in wild jazzenden Passagen den Weg für jede einzelne Komposition seines Landsmannes. Petros Klampanis’ Kontrabass stellt das folkloristische Thema von ‘Through A Land Unsown’ vor, und dann öffnet sein Solo das Stück in Richtung all seiner unerwarteteten Wendungen durch fast zehn intensive Minuten. Auf ‘Renata’ und dem darauf folgenden Titelsong ‘My Prophet’ entfalten sich weitere ausschweifende Geschichten, die aus stillen Tönen aller vier Musiker entstehen und im Verlauf immer intensiver werden – von feinen Soft-Touch-Klängen bis hin zu den für Oded Tzur typischen Ausbrüchen. Das letzte Stück ruft gleich vom Start weg das energetische Potenzial der Band ab und lässt die vier Musiker unmittelbar in die lebendigsten Bereiche vordringen. Der neu zur Band gestoßene Schlagzeuger Cyrano Almeida sorgt bei der Improvisation auch im komplexesten ungeraden Metrum für einen denkbar lockeren Groove.
Jan Kobrzinowski, Jazzthetik
Auf dem neuen Album ‘My Prophet’ zeigt sich dieser Feintöner des Saxophons an vielen Stellen expressiver als früher. Es gibt die für ihn typischen Saxophonklänge, die an eine tiefe Querflöte erinnern. Und dann gibt es berstend intensive Tenorsaxophontöne mit scharfer Kontur, die sozusagen vom anderen Ende des Farb- und Ausdrucksspektrums kommen. Immer wieder spielt die Band packende Steigerungen. Das ist oft eine Musik, die aufbegehrt, die sich zum Protest zu erheben scheint. Manche Passagen scheinen zu sagen: Selbst die leisesten Künstler – und die leisesten Menschen – müssen manchmal die Stimme erheben angesichts von immer mehr Gesellschaften, in denen nur noch Lautstärke zählt. […] In seinen jüngsten Aufnahmen wollte er nach eigener Auskunft Form und Freiheit zusammenbringen. Strenge Regeln der musikalischen Koexistenz – und zugleich starke individuelle Entfaltung. Großer Respekt vor der Gemeinschaft – und zugleich großer Respekt vor dem Einzelnen: Das ist das musikalische Prinzip des Quartetts.
Roland Spiegel, Bayerischer Rundfunk
An Italian reaction to the piano solo album Silent, Listening by Fred Hersch
Perciò si tratta di un disco di grandissimo valore, che offre il privilegio di ascoltare un grande maestro del pianoforte, nel pieno della propria maturità artistica e nel dominio assoluto dello strumento e dei materiali di partenza, all’interno di un processo creativo, gestito con grande sensibilità artistica ed espressiva, che viene mostrato nel suo farsi istantaneo.
Sandro Cerini, Musica Jazz
The vinyl re-issue of Kenny Wheeler’s album Angel Song within the Luminessence series is recommended in a German music magazine
Die Kompositionen stammen alle von dem Trompeter und Flügelhornisten, der sich natürlich nicht in denVordergrund spielt, sondern ein Netz von Linien und Klangfarben entstehenlässt, das hörbar offen ist für die Flüchtigkeit und Spontaneität des Moments. Das Drummer-lose Quartett mit GitarristBill Frisell, Bassist Dave Holland und Cool-Jazz Legende Lee Konitz ist vielseitig besetzt und musiziert wie schwerelos auf höchstem Niveau. […] Ein engelsgleiches Meisterwerk, zum ersten Mal auf LP.
Joachim Weis, Jazzthetik
Another enchanted US reaction to Words Unspoken by John Surman
Every track is a landscape in flux, and every album a series of them. For nearly six decades, Surman’s restless explorations have bolstered and defied genre categorization, but beauty persists. Beauty of tone, of timbre, of compositional conception and ensemble deployment, often an inward and reflective beauty, have been mainstays of Surman’ daunting and, happily, still growing and consistently superb discography. Much of it lives in the ECM catalog and may its entries multiply!
Marc Medwin, Dusted Magazine